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Pfad der linken Hand
von Frater ... Shani

Im hinduistischen sowie buddhistischen Tantra handelt es sich beim „Pfad der linken Hand“ (skt. Vāmācāra) nicht um eine streng definierte Schule oder Tradition, sondern um eine Unterweisung, die innerhalb einiger weniger, eher exotischer, Traditionen zu finden ist. So gesehen ist es auch kein definierter Stufenweg mit einem Anfang und einem Endziel.

Bei indischen Gurús ist es stets sehr beliebt, der eigenen persönlichen Lehre den Glanz einer angeblich seit Jahrhunderten währenden Tradition zu geben. Gerade bei hauptsächlich mündlich gegebenen Lehren ist es sehr schwer zu überprüfen, ob überhaupt eine längere Überlieferungslinie vorliegt, oder ob der Meister seine Übertragungen zu einem Teil selbst entwickelt hat. Die Geheimhaltung bezieht sich im übrigen nicht, wie oft angenommen wird, auf irgendwelche geheimgehaltenen sachlichen Informationen, sondern hat etwas mit dem Erfordernis individueller Übermittlung zu tun.

Ein zentrales Merkmal im Vāmācāra ist die Frau. An den Ritualen nehmen speziell geweihte Frauen teil. Im orthodoxen Hinduismus sind diverse Dinge für Frauen tabu. So gibt es z.B. auch Tempel, die von Frauen nicht betreten werden dürfen. Die Frau, ganz speziell die menstruierende Frau, gilt in vielerlei Hinsicht als unrein. Im Gegensatz dazu ist die Frau im Vāmācāra das Medium der Gottheit, die durch das Ritual gerufen wird. Dabei wird sie oftmals nicht einmal berührt. Manchmal kommt es bis zur tatsächlichen sexuellen Vereinigung. Die Priesterin oder Yogīnī im Vāmācāra ist sexuell aktiv – dieses Verhalten steht im Gegensatz zu gesellschaftlich akzeptiertem normativem Verhalten der Frau.

An den Ritualen nehmen Männer und Frauen gemeinsam teil. Im alten Indien war Kultur und Religion vollkommen von Männern beherrscht, entweder von sexuell enthaltsam lebenden Yogīs oder Sādhus oder von brahmanischen Priestern, die zwar immer verheiratet waren, bei denen Frauen aber eine untergeordnete Rolle spielen. Dieses Bild gilt auch für die Religionen des Westens: Judentum, Christentum und Islam. Im Mittelpunkt des linkshändigen Tantra stehen tatsächlich erotische Rituale. Erotische Trance oder Ekstase wird erzeugt und mit der Energie des Rituals (zum Beispiel einer bestimmten göttlichen Erscheinungsform) verbunden.

Die Frau steht symbolisch für das Nutzen der sexuellen Energie zu magischem Zwecke, für Sexualmagie. Im Vāmācāra wird die sexuelle Energie genutzt, um vorher festgelegte Ziele zu erreichen. Es handelt sich um einen Weg des Willens, der Disziplin, der Konzentration. Dieses sind präzise, effiziente, von Generation zu Generation erprobte Methoden, deren erfolgreicher Einsatz erst nach einigem Training möglich ist und die daher auch heute noch nur von Mund zu Ohr im Geheimen weitergegeben werden.

Linkshändig heißt nicht unrein, sondern das Nicht-Unterscheiden von Rein und Unrein, das Verwenden unreiner Substanzen wie z.B. sexueller Sekrete zu magischen Zwecken, das Benutzen sämtlicher negativer Kräfte aller Art ohne Unterschied. Der linkshändige Pfad beginnt aber mit dem Bewußtwerden und des Akzeptierens der Licht- und der Schattenseite seines Selbst.

In der Loge wird insbesondere das Tantra des Śrī Cakrasamvaras (skt., dt. „Herr der höchsten Glückseligkeit“) behandelt und geübt, welches einen vollständigen und umfassenden Einweihungsweg in den Pfad der Linken Hand darstellt.